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SSRQ ZH NF I/1/11 82-1

Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, I. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge. Erster Teil: Die Stadtrechte von Zürich und Winterthur. Erste Reihe: Stadt und Territorialstaat Zürich. Band 11: Gedruckte Mandate für Stadt und/oder Landschaft Zürich, par Sandra Reisinger

Citation : SSRQ ZH NF I/1/11 82-1

Licence : CC BY-NC-SA

Mandat der Stadt Zürich betreffend Arbeitsverbot für schulpflichtige Kinder (Rastgeben) auf der Landschaft

1779 mars 25.

Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich erlassen aufgrund der auf der Landschaft zunehmenden Kinderarbeit (Rastgeben) ein Mandat mit drei Artikeln. Verordnet wird, dass die Kinder erst nach Beendigung der Schulpflicht arbeiten dürfen, da sonst ihre Bildung vernachlässigt wird (1). Bis zur Zulassung zum Abendmahl müssen die sogenannten Rastkinder in ihren Gemeinden verbleiben. Kinder dürfen nur mit Wissen des Pfarrers, des Stillstands und der Eltern arbeiten. Diese Regelung betrifft auch Kinder, die aus zulässigen Gründen in einer anderen Familie in derselben Gemeinde arbeiten. Dabei ist der Besuch des Religionsunterrichts und der Repetierschule obligatorisch (2). Weiterhin wird Kindern, die zum Abendmahl zugelassen worden sind, das Arbeiten in einer anderen Gemeinde erlaubt. Auch dies darf jedoch nur mit Vorwissen der Eltern, der Vorgesetzten der Gemeinde und des Pfarrers geschehen. Zudem muss der Pfarrer eine Bescheinigung über die Zulassung zum Abendmahl sowie über den bisherigen Lebenswandel des Kindes ausstellen. In der fremden Gemeinde soll das Rastkind wie ein angehöriges Mitglied dieser Gemeinde behandelt werden. So untersteht das Kind der Seelsorge des dortigen Pfarrers. Falls das Rastkind den Ort wechselt, muss in jedem Fall der dortige Pfarrer und der Pfarrer der Geburtsgemeinde informiert werden (3). Zuletzt wird verfügt, dass Klagen aus Gemeinden mit Rastkindern, welche die Pfarrer und Stillstände nicht selbst erledigen können, den Obervögten und Landvögten gemeldet werden sollen. Ausserdem müssen die Pfarrer Verzeichnisse über die wegziehenden Gemeindeangehörigen verfassen und der Obrigkeit jederzeit Einsicht in die Verzeichnisse geben.

Mit der Ausbreitung der Heimarbeit und des Verlagssystems seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts veränderten sich die innerfamiliären und hauswirtschaftlichen Strukturen auf der ZürcherLieu : Landschaft. Kinder ab etwa 5 oder 6 Jahren wurden zunehmend als sogenannte Kostgänger in den protoindustriellen Produktionsprozess eingebunden. Mit dem seit dem 18. Jahrhundert belegten Begriff «Rast» ist das wöchentliche Arbeitspensum gemeint, das die Kinder als Unterhaltsentschädigung zu leisten hatten. Die Arbeit der Kinder, die häufig in fremden Haushalten stattfand, wurde als «Rastgeben» bezeichnet. Abgesehen vom Arbeitspensum waren die Kinder zu keinen weiteren Arbeitsleistungen verpflichtet und konnten frei über den Mehrverdienst verfügen.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es vermehrt zu kritischen Stimmen gegenüber dem «Rastgeben», wie auch im vorliegenden Mandat ersichtlich ist. Als schädlich angesehen wurde die damit verbundene Auflösung des familiären Verhältnisses zwischen Kindern und ihren Eltern, was negative Folgen auf das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben haben würde (vgl. beispielsweise die Gravamina der HerbstsynodeOrganisation : von 1766, StAZH E I 2.11, Nr. 51). Ein Nebeneffekt des «Rastgebens» war ausserdem, dass die Kinder die Schule nicht regelmässig besuchten, was auch damit zusammenhing, dass ihre Eltern das Schulgeld oftmals nicht aufwenden konnten (vgl. Landschulordnung von 1744, SSRQ ZH NF I/1/11 44-1).

In der Herbstsynode des Jahres 1778 schlug der Dekan Heinrich EscherPersonne : von PfäffikonLieu : vor, dass das Rastgeben nicht mehr ohne Vorwissen des Pfarrers und des StillstandesOrganisation : erlaubt sein solle. Zu diesem Zweck forderte er die Obrigkeit auf, eine Verfügung zu erlassen (StAZH E I 2.12, Nr. 15). Diese Forderung erfüllte der ZürcherLieu : RatOrganisation : , indem er am 25. März 1779 ein Gutachten einiger Ratsverordneten bestätigte und den Druck des vorliegenden Mandats anordnete. Darin war das «Rastgeben» zwar nicht grundsätzlich verboten, allerdings erst nach Beendigung der Schulpflicht sowie mit dem Wissen des Dorfpfarrers und des StillstandsOrganisation : . Bis zur Zulassung zum Abendmahl, was etwa mit 18 Jahren der Fall war, durften die Kinder und Jugendlichen zudem nur innerhalb ihrer Gemeinde «Rast geben». Das Mandat sollte am ersten Sonntag nach Pfingsten ab der Kanzel verlesen, an alle Ober- und Landvögte gesendet und den Pfarrern in den SynodenOrganisation : zugestellt werden (StAZH B II 984, S. 112).

Zur Protoindustrialisierung, Heimarbeit und «Rastgeben» in ZürichLieu : vgl. HLS, Haushalt; HLS, Heimarbeit; Pfister 1992, S. 304-314; Braun 1960, S. 82-89.

Texte édité

Xylographie

Wir Burgermeister und Rath der Stadt ZuͤrichLieu : Organisation : ,
entbieten allen und jeden Unsern Angehoͤrigen Unsern gnaͤdigen wohlgeneigten Willen, und
dabey zu vernehmen: Demnach Wir mit innigstem Bedauren hoͤren und gewahren muͤssen, wie daß das Rasten-geben der Kinder
auf Unserer Landschaft sint einigen Jahren her zu groͤstem Abbruch der in dem Gesellschaft- und haͤuslichen Leben unentbehrlichen Zucht und Ordnung so
sehr uͤberhand nehme, daß zu wo nicht gaͤnzlicher Abhebung, doch zu so viel immer moͤglichen Einschrankung dieser durch ihre Folgen zu einem gefaͤhrlichen
Uebel ausarten koͤnnenden Gewohnheit, Wir nach Unsern stets bestgemeynten Landesvaͤterlichen Absichten, nachfolgende Verordnungen zu errichten, und durch
den Druck oͤffentlich bekannt machen zu lassen, noͤthig und gutbefunden haben.

Erstens, solle allen und jeden Kindern ab Unserer Landschaft, ohne Unterschied, das Rast-geben gaͤnzlich untersagt und verbotten seyn, bis sie zu demjenigen Alter angewachsen sind, da sie in Kraft Unserer sint kurzem in Bezug auf die Landschulen neu-errichteten Verordnung1, aus der Schule entlassen
werden doͤrfen, allermassen durch fruͤhzeitigeres Rast-geben, indeme einig und allein auf den Erwerb das Augenmerk gerichtet worden, der so sehr benoͤthigte Unterricht der Kinder vernachlaͤßiget worden ist.

Gleichwie Wir aber den Kindern das Rast-geben, so lange sie den Unterricht in den Schulen anhoͤren muͤssen, gaͤnzlich verbieten, so gestatten und bewilligen Wir zweytens, daß selbige von dem
Zeitpunct an, da sie der Schule entlassen werden, Rast geben, aber bis und so lange sie zu dem HeilHeiligen Nachtmahl zugelassen worden sind, in ihren Gemeinden verbleiben sollen; Bey welch eingeschrankter Bewilligung Unsere fernere Willensmeynung dahin gehet, daß kein Kind von oben bestimmtem Alter ohne Vorwissen seiner Eltern, des Herrn Pfarrherrn, und E EAbréviation StillstandsOrganisation : Rast zu
geben befuͤgt seyn, selbiges durch alle dienliche Vorstellungen, seinen eigenen Eltern Rast zu geben, beredet, und in solchem Fall selbigen die Aufsicht uͤber das Kind ferners uͤberlassen, diesem aber zu
solchem Ende hin durch seinen Herrn Pfarrherrn die nachdrucksamsten Erinnerungen zu willigem Gehorsam gegen die Eltern, und Fuͤhrung eines in allwegen anstaͤndigen und Christ-geziemenden Lebens ertheilet werden sollen. Wann aber ein Kind aus zulaͤßigen Gruͤnden behauptete, von seinen Eltern wegzuziehen, so solle ihm zwar gestattet seyn, anderswo in seiner Gemeind unverlaͤumdeten
redlichen Leuten Rast zu geben, jedoch nicht anderst als mit Vorwissen seiner Eltern, des Herrn Pfarrherrn, und E EAbréviation StillstandsOrganisation : , und ihme dannzumalen die Beobachtung aller seinen Eltern schuldiger Pflichten auf das dringendeste an das Herz gelegt werden. ‒ In eint- und anderm Fall aber bleiben die Kinder verpflichtet, sowol den Religions-Unterricht ferners zu geniessen, als auch die
Repetier-Schul2 fleißig zu besuchen, und sollen sie hievon weder von ihren Eltern, noch sonst von jemand anderm behindert werden moͤgen.

Ansehende drittens diejenigen Kinder, die allbereits zu dem HeilHeiligen Nachtmahl zugelassen worden, so ist diesen, besonders wann die Art ihres Erwerbs es erheischet, gestattet, aussert ihren Gemeinden an andern Orten Rast zu geben; vorher aber sollen sie sich bey dem Herrn Pfarrherrn jeder Gemeinde melden, und nur mit seinem, auch der Eltern und Gemeinds-Vorgesetzten Wissen und Einwilligen wegziehen doͤrfen; auf welchem Fall hin dem Herrn Pfarrherrn eines solchen Kinds aufgetragen wird, selbigem ein AttestatChangement de police, daß es zu dem HeilHeiligen Nachtmahl seye zugelassen worden, ein Zeugniß von seinem bisanhin gefuͤhrten Lebenswandel, und Empfehlung an den Herrn Pfarrherrn desjenigen Orts, wohin es sich zu begeben gesinnet ist, zu noͤthiger Aufsicht und Fuͤrsorge mitzugeben, welcher demnach desselben Seelsorg zu uͤbernehmen, und ihns gleich seinen andern Gemeinds-Angehoͤrigen anzusehen und zu behandeln pflichtig, so wie ein solches Kind nicht befugt ist, von da weg an einen andern Ort zu gehen, ohne Vorwissen sowohl des Herrn Pfarrers selbigen, als seines eigenen Geburts-Orts.

Sollten endlich wider Unser Verhoffen und Unsere bestgemeinte Absichten, von dergleichen in eigenen oder in fremden Gemeinden wohnenden Rast-Kindern Klaͤgden einkommen, welchen die
Herren Pfarrer und EAbréviation Stillstaͤnde abzuhelfen nicht vermoͤgend waͤren, so solle es Unsern dortiger Enden verordneten Ober- oder Landvoͤgten gelaidet, und von diesen das dießfalls Noͤthige veranstaltet werden.

Damit uͤbrigens aller Unserer Angehoͤrigen gebuͤhrende Rechnung getragen werde, und Wir auf allen Fall alsobald wissen moͤgen, wer aus seinem Geburts-Ort weggezogen seye, so ergehet hiermit an saͤmmtliche Herren Pfarrer auf der Landschaft Unser Hochobrigkeitliche Befehl, uͤber alle und jede Gemeindsgenossen beyderley Geschlechts, welche auch in andern Absichten als die Rast-Kinder
aussert ihre Gemeinden ziehen wuͤrden, eine genaue Verzeichniß zu verfertigen, und selbige in steter Bereitheit zu halten, damit sie Uns gutfindenden Falls vorgelegt werden koͤnne.

Indessen versehen Wir Uns, daß dieser Unserer so wohl gemeynten Landesvaͤterlichen Verordnung nachgelebt, und jedermann vor Verantwortung und Straf sich zu vergaumen wol wissen werde.

Geben Donnstags den 25. Merz, nach Christi Geburt gezaͤhlt, Eintausend, Siebenhundert, Siebenzig und Neun JahrDate : 25.03.1779.

Canzley der Stadt ZuͤrichLieu : Organisation : .
[fol. v]Saut de page

Annotations

    1. Gemeint ist die erneuerte Schulordnung von 1778 (StAZH III AAb 1.14, Nr. 85).
    2. Die sogenannten Repetierschulen, in denen die Kinder Lernstoff wiederholen konnten, wurden mit der Schulordnung von 1778 eingeführt (StAZH III AAb 1.14, Nr. 85).